Ulrich Schürrer

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Verfasst am: 20.01.2007, 11:21 Titel: Wiesbadener Tafel |
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Wiesbadener Tagblatt, 20.01.2007
Grundversorgung für 2000 Leute
Bei der Wiesbadener Tafel engagieren sich Akademiker und Sozialhilfe-Empfänger
Vom 20.01.2007
Wie in öffentlichen Einrichtungen, in Vereinen, kirchlichen und privaten Initiativen ideenreich und mit aufgekrempelten Ärmeln für das Miteinander gearbeitet wird, schildern wir in dieser Serie.
Von Daniel Honsack
Wann gibt es so eine Situation eigentlich sonst noch? Es sind viele helfende Hände beteiligt, alle haben jede Menge Arbeit, und am Schluss sind alle zufrieden. Einen wirtschaftlichen Gewinn hat niemand daraus gezogen. Tatsächlich gibt es das, mitten unter uns und das jeden Tag. Die "Wiesbadener Tafel" gehört zu den Einrichtungen, in der solche Momente an der Tagesordnung sind, ihre Existenz Idee und Initiative
baut geradezu auf diesem vordergründigen Paradoxon auf. Dreimal in der Woche erhalten hier bedürftige Menschen kostenlos Nahrung. Dann öffnen sich die Tore der altkatholischen Friedenskirche, um ohne Ansehen von Herkunft und Konfession denjenigen das Nötigste zum Leben zu geben, die sich das nicht oder nicht mehr aus eigener Kraft beschaffen können. Außerdem fahren die Mitarbeiter einmal pro Woche zur Teestube, ins Männerwohnheim und ins Frauenhaus.
An jedem der Ausgabetage in der Kirche sind es an die 300 Personen, die sich hier drängen. Mittlerweile gibt es sogar ein rotierendes Vergabesystem. "Wenn man sich überlegt, dass da oft noch Familien dranhängen, kümmern wir uns um die Grundversorgung von 2000 Menschen", rechnet Wilfried Brandt vor. Er ist Vorsitzender der "Wiesbadener Tafel" und engagiert sich zusammen mit etwa 100 weiteren Aktiven des Vereins rein ehrenamtlich. Als er in Rente ging, war für ihn klar, dass er noch einiges tun kann. Als Verkaufsleiter eines Pharma-Unternehmens war er es gewohnt, viel und intensiv zu arbeiten, ideale Voraussetzungen also für eine ehrenamtliche Beschäftigung.
Er hat in den vergangenen Jahren erfahren, wie hoch für einige Menschen auch die Hürde ist, Hilfe anzunehmen. Er berichtet von einer Frau, die ihn anonym per E-Mail gefragt hat, wie sie wohl an Lebensmittel herankommen könne, ohne ihre Identität preiszugeben. Hier allerdings sind die Regeln klar. Nur, wer durch entsprechende Dokumente seine Bedürftigkeit nachweisen kann, bekommt eine Berechtigungskarte. "Wir können natürlich nicht überprüfen, ob jemand mit einer kleinen Rente nicht noch Immobilien hat", weiß Brandt. Aber er geht davon aus, dass sich so jemand wohl kaum zu ihm verirren würde.
Die Finanzierung des Unternehmens "Wiesbadener Tafel" ist komplett abhängig von den Mitgliedsbeiträgen und Einzelspenden. Der Beitrag beläuft sich auf 10 Cent pro Tag, wer aktiv mitmacht, ist davon befreit. "Die meisten zahlen aber dennoch", sagt der Vereinsvorsitzende. Doch selbst wenn alle 165 Mitglieder ihre Beiträge entrichten, kommt der Verein nicht weit. "Wir würden keine zwei Wochen durchhalten", ist Brandt überzeugt. Zwar kann der Verein seine Geschäftsräume in der Mainzer Straße, die im Besitz der Stadt sind, mietfrei nutzen. Doch allein die Nebenkosten und die Unterhaltskosten für die drei eigenen Fahrzeuge wären damit nicht im Ansatz zu bezahlen. "Wir wissen am Anfang des Jahres, was wir brauchen, aber wie wir es auftreiben, müssen wir jedes Mal aufs Neue sehen", bestätigt Brandt. Umso wichtiger ist es, wenn Firmen die Einnahmen aus einer Tombola spenden oder einen Betrag überweisen, statt ihre Kunden mit Werbegeschenken vor Weihnachten zu versehen.
Zentrale Unterstützung kommt von Pfarrer Klaus Rudershausen und seiner Gemeinde. Denn die Tafel ist hier mietfrei zu Gast, kann den Kirchenraum regelmäßig als Vergabestelle nutzen. Lediglich für die zwei Kühlgeräte, die rund um die Uhr angeschlossen sind, entrichten sie eine Pauschale. "Wir fühlen uns hier sehr willkommen", ist Brandt froh, einen guten Kooperationspartner zu haben.
Die freiwilligen Fahrer, die regelmäßig die überschüssige Ware von Wiesbadener Geschäftsleuten abholen sind ebenso wie die vielen Ehrenamtlichen, die sich an der Essensausgabe beteiligen, ein Spiegel der Gesellschaft. Hier finden sich Juristen, Ärzte, Facharbeiter und Sozialhilfe-Empfänger wieder. Einer von ihnen ist Jörg Caspari. Der 43-Jährige ist sechs Tage in der Woche unterwegs, um bei Bäckereien, Supermärkten oder Großhändlern das abzuholen, was nicht mehr verkauft werden kann, aber noch ohne weiteres verzehrbar ist. Er macht das bereits seit September 2004, seit Juli vergangenen Jahres als Arbeitsgelegenheit, auch "Ein-Euro-Job" genannt. Für ihn ist diese Arbeit ein besonderes Anliegen, denn noch vor zweieinhalb Jahren war er eigentlich am Ende. "Ich hatte alles verloren", sagt er, während er sein Ziel ansteuert - einen Lebensmittelmarkt in der Dotzheimer Straße. Dort wird er schon erwartet, grüßt freundlich in die Runde und holt die vier bereitstehenden Körbe mit Obst, Gemüse und Toastbrot in seinen Wagen.
Nein, nicht alles habe er verloren, grinst er. Denn den Führerschein hatte er noch. Er war Gast in der Teestube und lernte dort die "Tafel" kennen. "Besser als dumm rumsitzen ist das allemal", sagt er. Er ist gelernter Kaufmann im Groß- und Einzelhandel, hat als Paketzusteller, Schadenssachbearbeiter und in einem Autohaus gearbeitet. Firmen gingen Pleite, es gab Stress mit dem Chef und der Familie. Als alles zusammenkommt, ist es aus. "Ich habe mich um nichts mehr gekümmert", erinnert er sich. Und so landete er auf der Straße.
"Heute mache ich was Sinnvolles, und es macht richtig Spaß", sagt er. Gerade hat er drei Pakete von einem traditionsreichen Café in der Fußgängerzone erhalten. Kuchen und Torten gibt es diesmal, das kommt öfter vor. "Unsere Auswahl ist ziemlich groß", bemerkt er. Beim Arbeitsamt hat man ihm vor drei Jahren gesagt, er sei zu alt, um noch vermittelt zu werden. Jetzt steuert er seinen Wagen souverän wieder aus der Fußgängerzone heraus, fährt noch zu einem Supermarkt an der Platter Straße. Auch hier das gewohnte Bild. Er kommt, grüßt die bekannten Gesichter, holt die wartenden Waren und lädt sie ein. "Wenn jemand Arbeit will, findet er auch welche", ist er fest überzeugt. Und ergänzt: "Und sei es ehrenamtlich." Einmal wurde er verständnislos gefragt: "Wie kannst Du nur arbeiten ohne Lohn?" Der Mann hatte beim Frühstück bereits seine erste Rotweinflasche angesetzt. Alkoholprobleme hatte Jörg Caspari glücklicherweise nie.
"Ich habe mein Auskommen", zeigt sich Caspari zufrieden. Er hat gelernt, mit wenig auszukommen. Durch den Ein-Euro-Job konnte er sich vor Weihnachten sogar einen neuen Fernseher kaufen, als der Alte den Geist aufgab. "Für viele ist es ein schwerer Schritt, Hilfe anzunehmen", weiß er. Doch die meisten sind schließlich dankbar.
In der Gesellschaft macht er eine zunehmende Aufmerksamkeit für Bedürftige aus. "Bei offiziell vier Millionen Arbeitslosen weiß jeder, dass es auch ihn treffen kann", meint er. Auch die Spenden seien in der Vergangenheit mehr geworden. Da sind kuriose Sachspenden dabei, wie etwa die 9000 Fläschchen Sonnencreme, die von einer Werbeaktion einer Versicherung übrig geblieben sind. Dennoch sind Lebensmittel das Wichtigste. "Lediglich bei Backwaren haben wir manchmal eher zu viel, als zu wenig", schränkt Brandt ein. Durch den hohen Konkurrenzdruck in diesem Gewerbe, produzieren viele Bäckereien deutlich zu viel, um keinen Kunden unverrichteter Dinge nach Hause zu schicken.
Jörg Caspari hat die erste Runde des Tages beendet. Innerhalb von einer Stunde war er bei drei Geschäften, hat im nahe liegenden Hotel den Schlüssel für die Kirche abgeholt und dort alles abgeladen. Später wird er noch mal zu einem Großmarkt fahren.
Lesen Sie am Dienstag:
Die Rheingau-Platte
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